Das Coronavirus stoppen - und das Virus danach

Einblicke in die Suche nach neuen antiviralen Medikamenten zur Bekämpfung der aktuellen Pandemie und jenen, die in Zukunft folgen könnten

11. Januar 2022

Von Kevin Jiang

Das Coronavirus, das COVID-19 verursacht, ist verblüffend klein. Aneinandergereiht könnten tausend von ihnen auf die Breite eines menschlichen Haares passen. Wie kann etwas so Kleines so viel Schaden anrichten? Und was noch wichtiger ist: Wie können wir es aufhalten? Die Antwort auf diese Fragen könnte zum Teil in einer raffinierten und komplexen Apparatur liegen – einer Art molekularer Kopiermaschine.

Die Suche nach neuen und besseren antiviralen Mitteln gegen das Coronavirus, das COVID-19 und seine Varianten verursacht, ist eine der dringendsten Aufgaben der Medizin, der Wissenschaftler auf der ganzen Welt nachgehen. Und das ist nicht die einzige Aufgabe - auch andere Coronaviren könnten ein Pandemiepotenzial bergen. Denn: Coronaviren sind eine ganze Familie von Viren, die nicht nur für COVID-19, sondern auch für Ausbrüche wie SARS und MERS (so etwa in den Jahren 2003 bzw. 2012) verantwortlich sind.

«Die historische Geschwindigkeit, mit der wir COVID-19-Impfstoffe entwickelt und auf den Markt gebracht haben, zeigt, wie weit die Wissenschaft gekommen ist», sagt Stephanie Moquin, Virologin bei Novartis. «Aber wir brauchen nach wie vor wirksame antivirale Mittel gegen Coronaviren - nicht nur, um Patienten zu helfen, die sich infiziert haben, sondern auch, um Medikamente zur Verfügung zu haben, die alle anderen möglicherweise künftig auftretenden Coronaviren stoppen können.»

Wir dürfen nie wieder so unvorbereitet sein, wie wir es bei COVID-19 waren.

Bei Novartis konzentrieren sich die Forscher auf die molekulare Maschine, die Coronaviren nutzen, um menschliche Zellen zu kapern und sich zu vermehren. Dabei sind alle Coronaviren auf diese Maschine angewiesen - nicht nur jenes Virus, das COVID-19 verursacht. Bemühungen, diese Maschine zu sabotieren, könnten daher einen Schlüssel zur Entwicklung eines neuen antiviralen Pan-Coronavirus darstellen; einen Schlüssel, der dazu beitragen könnte, die aktuelle Pandemie zu beenden und die Welt auf künftige Bedrohungen durch weitere Coronaviren besser vorzubereiten. Diese Maschine könnte darüber hinaus sogar Hinweise auf ein mögliches «Heilmittel» für einige Arten von gewöhnlichen Erkältungen liefern.

Eine Pille gegen die Pandemie

Von dem Moment an, als die Wissenschaftler das neuartige Coronavirus entdeckten, setzten sie alles daran, die Krankheit zu bekämpfen, und entwickelten in einem noch nie dagewesenen Tempo hochwirksame Impfstoffe. 

Allerdings kann oder wird sich nicht jeder impfen lassen, und die Bemühungen, vorhandene Medikamente – die nicht gegen Coronaviren sondern mit Fokus auf andere Erkrankungen entwickelt wurden – wiederzuverwenden, können nur begrenzt helfen. Es besteht nach wie vor ein dringender Bedarf an antiviralen Medikamenten, die den Verlauf von Coronavirus-Infektionen verlangsamen oder stoppen können, vor allem, da immer neue Varianten auftauchen. 

Obwohl also bereits Impfstoffe weltweit verteilt werden, nimmt die Arbeit an antiviralen Medikamenten weiter Fahrt auf. Forscher auf der ganzen Welt, auch bei Novartis, stellen sich dieser Herausforderung, indem sie Wissen und Ressourcen offen miteinander teilen und völlig neue Rahmenbedingungen für eine Zusammenarbeit schaffen. In diesem Geiste haben sich Wissenschaftler aus dem akademischen Bereich und der Industrie zusammengefunden, um die neuesten Forschungsergebnisse und Strategien in virtuellen Foren zu diskutieren. Dazu gehört auch das erste Science of Therapeutics Symposium, das von den Novartis Institutes for BioMedical Research (NIBR) veranstaltet wurde.

Da antivirale Medikamente die Vermehrung von Viren stoppen, sind sie in den frühen Stadien einer Infektion am wirksamsten. Das bedeutet, dass solche Medikamente im Idealfall allgemein verfügbar sein sollten, um von allen Infizierten einfach eingenommen werden zu können.

«Das ideale Virostatikum gegen Coronaviren sollte in Pillenform vorliegen, sodass die Menschen zu Hause etwas einnehmen können, um das Virus zu stoppen, sobald sie Symptome verspüren, einen positiven Test vorliegen haben oder auch nur glauben, dass sie dem Virus ausgesetzt waren», sagt Julien Papillon, medizinischer Chemiker bei Novartis.

Die Coronavirus-Kopiermaschine

Zu diesem Zweck sind die Wissenschaftler von Novartis hinter der Schlüsselmaschinerie her, die das Virus so gefährlich macht.

Im Grunde genommen ist das Coronavirus ein Transportmittel für sein Genom - einen genetischen Bauplan für die Herstellung weiterer Coronaviren. Einmal in einer Zelle angekommen, bringt dieser Bauplan die Zelle zunächst einmal dazu, eine molekulare Kopiermaschine für das Virus zu schaffen.

Diese Maschine hat nur eine Aufgabe: Kopien des Virusgenoms zu erstellen. Jede neue Kopie veranlasst die Zelle, weitere Kopiermaschinen zu bauen, die dann noch mehr virale Baupläne ausspucken.
Dieser Zyklus überfordert die Zelle schnell und verwandelt sie schliesslich in eine reine Coronavirus-Produktionsfabrik. Schon bald strömen die neu gezüchteten Coronaviren aus der Zelle heraus, um ihre Nachbarn und schliesslich andere Menschen zu infizieren.

Doch die Kopiermaschine hat Schwächen. 

Sie ist komplex und besteht aus vielen verschiedenen Proteinen. Diese Komponenten sind bei ihrer Entstehung miteinander verbunden - ähnlich wie die Teile eines Spielzeugmodells in einem Plastikrahmen stecken, wenn sie zum ersten Mal aus der Schachtel genommen werden. Um die Teile zu lösen und die Maschine zusammenzusetzen, verwendet das Virus eine Proteinschere, die Mpro (oder Hauptprotease, engl. main protease) genannt wird. 

In Zusammenarbeit mit Kollegen der University of California, Berkeley, in den USA hat sich ein Team von Novartis daran gemacht, Moleküle zu identifizieren, die diese Schere im Wesentlichen blockieren und so verhindern können, dass die Kopiermaschine überhaupt zusammengebaut wird. Auf diese Weise kann sich das Virus nicht weiter vermehren und keinen weiteren Schaden anrichten.

Vorbereitungen für die nächste Pandemie

Das Team von Novartis hat das vergangene Jahr damit verbracht, solche Moleküle zu untersuchen, die vor Beginn der klinischen Tests im Labor auf Herz und Nieren geprüft werden mussten. Nachdem das Team die möglichen Kandidaten eingegrenzt hat, schreitet das Projekt mit Unterstützung der Bill & Melinda Gates Foundation voran. Arbeitsgruppen auf der ganzen Welt bemühen sich in ähnlicher Weise, das Coronavirus zu neutralisieren, indem sie Mpro, Komponenten von Kopiergeräten oder andere Ziele ausschalten.

Es wird einige Zeit dauern, bis mögliche Behandlungen an Patienten getestet werden können. Aber Medikamente, die speziell auf das Stoppen von Mpro ausgerichtet sind, könnten herausragende Vorteile bieten, die sogar über die COVID-19-Pandemie hinausgehen würden.

Um bei der Metapher zu bleiben: Alle bekannten Coronaviren verwenden sehr ähnliche Mpro-Scheren, um ihre Kopiergeräte einzurichten. Ein Medikament, das diese Schere bei einer Art von Coronavirus ausschaltet, könnte also auch gegen andere Coronaviren wirksam sein, einschliesslich neuer Varianten und sogar solcher, die noch nicht aufgetaucht sind. 

Dazu gehören auch Coronaviren, die für etwa 20 % der Erkältungen verantwortlich sind - mildere Cousins des Erregers von COVID-19 sozusagen. Da auch andere Erkältungsviren ähnliche molekulare Scheren verwenden, könnten die Bemühungen, Mpro zu deaktivieren, neue Wege aufzeigen, um auch diese Viren zu deaktivieren. 

«Es ist so gut wie sicher, dass künftige Pandemien durch Coronaviren verursacht werden, die wir noch nicht identifiziert haben», sagt John Tallarico, der bei Novartis die Forschung im Bereich chemische Biologie und Therapeutika leitet. «Deshalb ist die Aufnahme von antiviralen Medikamenten, die gegen alle Coronaviren wirksam sind, in das Arsenal des öffentlichen Gesundheitswesens ein wichtiger Schwerpunkt unserer umfassenden, branchenweiten Reaktion auf diese Krise. Wir dürfen nie wieder so unvorbereitet sein, wie wir es bei COVID-19 waren.»