Neue Welten im Labor

Wie virtuelle Realität die Entwicklung neuer Medikamente unterstützen kann

Dez 11, 2017

von Elizabeth Dougherty

In den 1950er-Jahren haben Wissenschaftler mithilfe von Drähten und Blöcken Proteinmodelle erstellt, um so die molekulare Maschinerie abzubilden. Die Modelle halfen ihnen dabei, zu verstehen, wie Proteine arbeiten und mit Medikamenten interagieren. Später wurden die Drahtmodelle durch Computergrafiken ersetzt, was die Variationsbreite und Präzision erhöhte, aber zu Lasten der dritten Dimension ging.

Viktor Hornak
Viktor Hornak befasst sich mit dem Einsatz von VR-Technologie im Prozess der Arzneimittelentwicklung.

Nun wollen die Forscherinnen und Forscher von Novartis die dritte Dimension wieder aufleben lassen. Statt auf Drähte und Blöcke setzen sie auf die virtuelle Realität (VR), welche es den Nutzern ermöglicht, in eine digitale Parallelwelt einzutauchen.

Viktor Hornak, der als Investigator im Global Discovery Chemistry Department des Novartis Institutes for BioMedical Research (NIBR) arbeitet, befasst sich mit dem Einsatz von VR-Technologie im Prozess der Arzneimittelentwicklung. Für ihn und sein Team liegen die Vorteile der virtuellen Realität klar auf der Hand: Indem VR den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermögliche, die biologische Maschinerie klarer zu erfassen, trage sie zu einer besseren Kommunikation untereinander bei und helfe so, die molekulare Zusammensetzung eines neuen Medikaments schneller zu verbessern.

Von der Spiele-Welt in die Welt der Wissenschaft

Als die virtuelle Realität im Jahr 2016 auf den Verbrauchermarkt gelangte, entschieden sich Viktor Hornak und sein Team zu einem Experiment. Für ungefähr 700 US-Dollar kauften sie alles was nötig war, um…. mit dem Gamen zu beginnen.

Doch die erworbene Standardtechnologie war für die Arzneimittelforschung in etwa so nutzlos wie ein Smart-TV ohne Internetverbindung. „Wir bekamen nur die Hardware geliefert“, so Hornak. „Es war keine Software zur Unterstützung unserer Forschung dabei.“

Daraufhin setzte sich Viktor Hornak mit IT Spezialisten von Novartis zusammen und entwickelte eine Software, die in der Lage war, Informationen über die Struktur eines Proteins (d.h. die Position aller Atome im Molekül und die Form der molekularen Maschinerie) in eine virtuelle 3D-Ansicht zu übersetzen. Diese Software erlaubt es dem Team heute, mithilfe von VR-Headsets in das Protein einzutauchen und darin herumzuspazieren.

Frau mit VR-Headsets
Die Software erlaubt es dem Team, mithilfe von VR-Headsets in das Protein einzutauchen und darin herumzuspazieren.

„Wir wenden viel Zeit dafür auf, Strukturen zu untersuchen und ihre Interaktion mit unseren Medikamenten zu verstehen. In der virtuellen Realität bin ich genauso groß wie das Medikament und kann die Proteininteraktionen um mich herum beobachten“, erklärt Hornak. „Dies ist auf einem flachen Computerbildschirm nicht möglich. Eine 3D-Ansicht ist viel natürlicher.“

Solche „molekularen Spaziergänge“ sind vor allem in den frühen Phasen des Arzneimitteldesigns hilfreich. In dieser Phase tauscht das Team viele Ideen über die Interaktionen eines Proteins mit einem potenziell niedermolekularen Medikament aus. Doch weil die Forscherinnen und Forscher verschiedene wissenschaftliche Hintergründe haben und nicht immer die gleiche Sprache sprechen, gestaltet sich dieser Ideenaustausch oft als knifflig.

Dank dem VR-Prototyp-System können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun zusammen durch eine chemische Struktur spazieren. Indem sie die gleichen Dinge zur gleichen Zeit sehen, können sie sich schneller auf die besten Ideen zur Optimierung der chemischen Zusammensetzung eines Medikaments einigen. Auf diese Weise kann das Medikament besser auf die Maschinerie eines Proteins abgestimmt und die Funktion des Proteins wirksamer verändert werden, um den Verlauf einer Krankheit zu verlangsamen oder zu stoppen.

Die Eingrenzung möglicher Optionen ist besonders wichtig, da die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der Verbesserung von Medikamentenkandidaten eine Auswahl aus tausenden Molekülen treffen müssen. Je mehr sie darüber wissen, wie geeignet ein kleines Molekül ist oder was seine Eignung verbessern könnte, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Option wählen, die eine Krankheit sicherer oder wirksamer bekämpfen kann.

„Ich war total begeistert, als ich das erste Mal in ein Protein steigen und darin herumspazieren konnte“, berichtet José Duca, der als Executive Director in der Computer-Aided Drug Discovery Group des Global Discovery Chemistry Department arbeitet. „Dank der virtuellen Realität können wir Moleküle in einer völlig neuen Weise betrachten. Es liegt zwar noch einiges an Arbeit vor uns, aber die VR-Technologie verfügt über das Potenzial, uns Einblicke zu gewähren, die den Prozess der Medikamentenentdeckung beschleunigen können.“

Volle Fahrt voraus

VR-Prototyp-System
Dank dem VR-Prototyp-System kann das Team durch eine chemische Struktur spazieren.

Viktor Hornak hofft, dass sich die Entwickler von Programmen zur molekularen Visualisierung in Zukunft noch mehr mit der virtuellen Realität befassen werden. Bis jetzt haben dies nur einige wenige getan, da die VR-Hardware noch immer neu und die Branche fragmentiert ist: Mehr als eine Plattform kämpft um die Vorherrschaft – vergleichbar mit dem Kampf von VHS und Betamax um die Marktführerschaft auf dem Heimvideomarkt.

Zudem wird die virtuelle Realität von der erweiterten Realität (Augmented Reality, kurz: AR) als einer weiteren Form der 3D-Visualisierung eingeholt. Die erweiterte Realität erschafft zwar keine virtuellen Welten, in die sich mit dem ganzen Körper eintauchen lässt. Dafür fördert sie aber im besonderen Maße das gemeinschaftliche Arbeiten, da die virtuellen Objekte in der realen Umgebung des Betrachters erscheinen anstatt sich in einer isolierten, virtuellen Welt zu zeigen.

Indem Viktor Hornak und seine Kolleginnen und Kollegen in dieser frühen Phase ein unternehmensinternes VR-Prototyp-System für die Medikamentenentdeckung entwickelt haben, können sie den Entwicklern bestehender 2D-Tools für die molekulare Visualisierung den potenziellen Wert der virtuellen Realität vor Augen führen. „Wir wären in diesem Prozess am liebsten führend, um seine Zukunft aktiv mitgestalten zu können, anstatt nur zu warten bis sich etwas tut“, sagt Hornak.

Die Chancen, dass die virtuelle Realität zukünftig eine immer größere Verbreitung finden wird, stehen gut. Dann nämlich, wenn sie von der Entwicklerbranche unterstützt wird und diese beginnt, VR-Programme in der gleichen Intensität zu schreiben wie sie bereits Applikationen für das Smartphone entwickelt. „Es handelt sich dabei um eine neue Art, die Dinge zu tun“, so Viktor Hornak. „Nicht nur bezogen auf die Wissenschaft, sondern auf alle möglichen Bereiche und Interaktionen.“